Eine fast unbekannte Seite unseres Christseins im Alltag hat der Theologe Karl Rahner in dem Satz eingefangen: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein"! Was ist an mystischem Christsein so wichtig, dass damit seiner Meinung nach alles steht und fällt?
Auf dem Weg zu einer Antwort lohnt es sich, die drei großen Mystiker des Dominikanerordens Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse miteinander zu vergleichen. Meister Eckhart hat der Kirche einen groß angelegten Entwurf zur theologischen Durchdringung des Glaubens geschenkt; zugleich verfügte er über tiefe spirituelle Einsichten, die er in unerreichter Meisterschaft mit seinen philosophisch/ theologischen Einsichten verschmolzen hat. Johannes Tauler gelang es, Meister Eckharts Lehren in eine Spiritualität des Alltags zu übersetzen; er übertrug das Wesentliche Eckharts aus der Universität in eine Lebenspraxis. Heinrich Seuse leistete dasselbe, jedoch weniger auf rationalem, als auf emotionalem Weg: er eröffnet der gemütvollen, bildhaften, ja poetischen Seite christlicher Spiritualität weiten Raum. Mit ihm wird geistliches Leben zum Erleben.
Zusammengenommen zeigen diese drei großen Dominikaner, was an „mystischem Christsein" bis heute wichtig ist: ein rationales Element, das in intellektueller Redlichkeit die Hl. Schrift und die Glaubenstradition durchdringt; ein praktisches Element, das philosophisch-theologische Deutung im alltäglichen Leben erdet, und ein Element von Erfahrung, das rationale Einsichten mit gefühlsmäßigem Erleben in Einklang bringt.
Die Schriften der dominikanischen Mystiker sind bis heute aktuell. Sie kommen einem weit verbreiteten Bedürfnis nach einem sinnerfüllten Leben aus der Tiefe des Seins entgegen; sie zeigen Wege, wie Menschen sich im Glauben an Gott selbst verwirklichen können. Es geht ihnen um die Formung des inneren Menschen. Das Wesentliche war für sie die Erkenntnis des Weges, den der Mensch zum Ziel der Einung von Gott und Seele zu gehen hat, und zugleich des Weges, den Gott zum Menschen hin schon gegangen ist. Ihre Predigten und geistlichen Ansprachen, ihre Schriftkommentare und theologischen Traktate, ihre Lieder und Hymnen verkünden den Gedanken vom gottgeeinten Leben, d. h. eines Glaubens und Handelns, das mit Gott im Einklang ist.
Wer war Seuse in diesem Spektrum? Heinrich Seuse war Schüler Meister Eckharts, der ihn während seiner theologischen Studien in Köln in die Mystik einführte. Auf Grundlage der Lehren Eckharts verfasste er die beiden Traktate "Buch der Wahrheit" und "Büchlein der ewigen Weisheit". Er war ein Schriftsteller, den es dazu trieb, von der Gnade und der Liebe Gottes Zeugnis zu geben, und das mit großer Innigkeit und Wärme, welche dieses Zeugnis bis heute lebendig hält. Dabei war Seuse vor allem anderen ein Seelsorger.
Wer die Bedeutung Seuses für heutiges christliches Leben entdecken will, muss durch die mittelalterliche Sprachform und seinen poetischen Stil hindurch schauen, muss wahrnehmen, welche Sicht von Welt, Mensch und Gott bei ihm greifbar wird. Seuse sieht Menschen und Dinge wie sie sind. Er akzeptiert sie in ihrer Eigenart und möchte die Menschen zur eigenen Erfahrung, zu selbst erlebtem Glauben an Gott ermutigen.
Es gibt kein Grab und keine Reliquien von diesem am Bodensee geborenen und in Ulm verstorbenen Seligen. Nicht einmal seine Biographie lässt sich in allen Einzelheiten aus dem Lauf der Jahrhunderte bergen. Wohl aber haben wir in seinen erhaltenen Schriften einen Abglanz seiner spirituellen Erfahrung, seiner gefühlvollen Hinwendung zum lebendigen Gott, seiner Liebe zur ewigen Weisheit. Heinrich Seuse ist „Diener der ewigen Weisheit" und darin ein geistlicher Lehrer des erlebten Glaubens und der je eigenen Erfahrung mit Gott.
P. Dr. Dietmar Th. Schon OP
(Provinzial der Provinz des Hl. Albert in Süddeutschland und Österreich)